Das Sagen haben

"dicere" ist das lateinische Wort für "sagen"; es kann auch "zeigen" oder "weisen" bedeuten. Eine berühmte lateinische Redensart lautet "dictum, factum" und bedeutet "Gesagt, getan!" Im Schöpfungsmythos der Bibel genügt "Gottes Wort", um "Himmel und Erde" entstehen zu lassen: 'Gesagt, erschaffen!' Mythen sind erdichtete Fakten; die Mythendichter spielen Gott, indem sie sagenhafte Tatsachen schaffen.

Das deutsche Wort "dichten" kann "etwas verdichten" oder "etwas erdichten" bedeuten; das verdichtende Dichten hängt mit "Dicke" zusammen, das erdichtende Dichten mit "Diktat". Man sagt, die Wörter "dichten" und "Dichtung" seien Homonyme, weil sie genau gleich lautende Wörter für Verschiedenes seien. Wenn jemand ein Dicker ist, muss er noch lange kein Dichter sein; sehr wohl aber er ist ein Dichter, wenn er in einem bestimmten Sinn diktieren kann.

Man sagt, die Wörter "diktieren" und "Diktat" seien analog, weil sie Wörter für Unterschiedliches, obgleich Ähnliches seien. Wer diktiert, kann ein Lehrer oder ein Chef sein, der einen Text mündlich vorsagt, damit dieser von einem Schüler bzw. einer Sekretärin möglichst tadellos schriftlich festgehalten werden soll; es kann sich aber auch um einen Machthaber handeln, der anderen mit seinem Wort etwas vorschreibt, das sie bei Strafe befolgen müssen.

Das lateinische Wort für "diktieren" ist "dictare"; "dictare" ist eine Verstärkung von "dicere"; es geht hier also um ein machtvolles Sagen, um ein Machtwort – um nicht zu sagen: Gotteswort.

Aus alledem lässt sich schließen: Es gibt eine Diktatur des Gedichts. Wer dichtet, hat das Sagen.

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