Nutze den Talk!

Weil das Leben kurz ist (lateinisch: "vita brevis", nach Seneca), gibt es den Rat, den je heutigen Tag zu nutzen (lateinisch: "carpe diem", nach Horaz). Statt so der Kürze des Lebens, also der Tatsache des Todes zu gedenken (lateinisch: "memento mori", aus dem Mittelalter), sehe ich noch einen anderen Grund und eine andere Weise, Gelegenheiten zu ergreifen.

Alle Menschen wachsen in einer globalisierten Marktwirtschaft zusammen; und zusammen gehören sie ja auch ihrer Natur gemäß (frei nach "Nun wächst zusammen, was zusammengehört" von Willy Brandt). Naturgemäß im Sinne von wesensgemäß. Für maßgebend erachte ich hier die Wesensbestimmung, die Aristoteles von den Menschen gegeben hat: ihr Wesen sei, miteinander zu sprechen (altgriechisch: lógon échon, aus: Politik; deutsch von Martin Heidegger, aus: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, HGA 18). Gewiss spricht man bereits beim weltweiten Geschäftemachen recht viel miteinander. Doch hier ist das äußerst schwache Personalpronomen "man" gewiss eher am Platz als die ausdrückliche Rede von „Menschen“. Die kapitalistischen Sachzwänge drängen auf eine Art von Kommunikation, mit der man sich auseinander dividiert, indem man handelseinig wird. Dadurch und auch durch begleitende Small Talks können Menschen nicht einmal ansatzweise miteinander in ein wesentliches Gespräch – in das Gespräch, das "wir sind" (aus Friedrich Hölderlins "Friedensfeier") – gelangen. Es bleibt ihnen systembedingt und entsprechend systematisch vorenthalten.

Es sei denn, einige und immer mehr von ihnen bringen das Kunststück, um nicht zu sagen: das Kunstwerk, fertig, in diesen "verwickeltsten Verhältnissen mit kühner Einfalt" (Schluss von Friedrich Schillers "Ästhetischen Briefen") wenigstens sporadisch und dann immer häufiger den Bann und die Bahn zu brechen für die "Ich und Du"-Konstellation (nach Martin Bubers Dialogphilosophie) und so zu beherzigen, was die Aufforderung "Nutze den Talk!" im besten Sinne heißen kann.